Eugen Kogon – Der SS-Staat.

Ich muss es gleich zu Anfang sagen: Es gibt kaum ein Buch, dass mich mehr fasziniert und gleichzeitig entsetzt hat, wie Kogons „der SS-Staat“. Es ist ein Meilenstein der deutschen Buchgeschichte und vermutliche eines der wichtigsten historischen Bücher des 20. Jahrhunderts.
Kogon, der als Regimegegner mehrmals von der Gestapo verhaftet wurde und im Jahre 1939 in das KL-Buchenwald deportiert wurde, in dem er bis zu seiner Befreiung sechs Jahre interniert war, beschreibt in diesem Buch auf eindringliche, sachliche Weise den Alltag im „SS-Staat“, als die er die KLs bezeichnet. Es ist der genaueste, akribischste Blick auf das Leben und das Leiden hundertausender Internierter und allein deshalb ist dieses Buch von unschätzbarem Wert.

Kogon schrieb das Buch nach seiner Befreiung im Jahre 1946 meist aus der Erinnerung hinaus, dennoch gelang es ihm, eine Faktendichte zu erzeugen, die den Leser förmlich erschlägt. Von Vorteil war hier sicherlich die Tatsache, dass Kogon im Laufe der sechs Jahre diverse Positionen innerhalb der Häftlingshirarchie des KLs durchlaufen hat und somit Einblicke in viele Gebiete des Lageralltags erhalten hat. Kogon räumt mit vielen Mythen zu den KLs auf, beschreibt Häftlingsverwaltungen oder Konflikte zwischen einzelnen Häftlingsgruppen ohne zu beschönigen, erklärt im Nachhinein vielfach unverständliche Handlungsweisen vieler Häftlinge und vor allem den leidgeplagten Alltag zwischen Folter, Demütigung und Tod.
Seine Beschreibungen können als objektiv angesehen werden, man hat teilweise den Eindruck als nähme er die Postion eines Beobachters ein, anstatt aus dem Blickwinkel eines direkt Betroffenen zu schreiben. Er beschreibt detailliert die täglichen Interaktionen zwischen Häftlingen und Wachmannschaften, Kapos oder Lagerverwaltung. Dabei beschränkt er seinen Blick nicht alleine auf die furchtbaren Behandlungen seitens der SS, sondern beschreibt auch die wenigen positiven Interaktionen, z. b. mit dem zeitweiligen Lagerarzt Dr. Ding-Schuler, unter dem sich die sanitären und hygienischen Bedingungen besserten.

Kogon beginnt sein Buch im „Groben“, mit grundsätzlichen Defninitionen des Begriffes „Terror“ und der Organisation und Funktion der SS, um dann mit jedem Abschnitt tiefer ins Detail der Materie einzudringen. Von den allgemeinen Definitionen wechselt er zum allgemeinen Aufbau der Konzentrationslager, zur Strukturierung der Häftlingsmasse und zur inneren Organisation der Kls, um dann detailliert auf die eigentlichen Bereiche des Lageralltags wie Ernährung, Arbeit, sanitäre Bedingungen oder Freizeit einzugehen. Dabei ist ihm hoch anzurechnen, dass er nichts beschönigt, aber auch nichts absichtlich verschlimmert. Er stellt dar – nüchtern, akribisch und emotionslos. Man möchte sich manchmal fragen, wie ein Mensch, dem so viel Leid angetan wurde (auch wenn Kogon noch Glück hatte) eine solche Distanz aufbauen konnte, zu Ereignissen, die nur kurze Zeit hinter ihm lagen. Doch gerade dieser Punkt macht seine Glaubwürdigkeit aus. Es zeigt ganz deutlich, dass Kogons Intention das Darstellen ist, nicht das Anklagen. Ob es ihm leicht gefallen ist, ist schwierig zu sagen, unbestreitbar ist die Art der Darstellung einer der großen Leistungen dieses Buches. Es gehört viel dazu, seinen ehemaligen Peinigern nicht mit grenzenlosem Hass entgegenzutreten, sondern zu wissen, dass Aufklärung die weit intelligentere und zielgerichtetere Methode ist.

Das Buch gliedert sich in Themenkomplexe, denen meist kurze Kapitel untergeordnet sind, in denen die Ausprägungen des jeweiligen Topos detailliert dargelegt sind. In diesen Kapiteln beschreibt Kogon prägnant die wesentlichen Bereiche des Lagerlebens und dessen Struktur. Im Grunde genommen beziehen sich die Ausführen auf das KL-Buchenwald, da Kogon dort seine gesamte Haftzeit interniert war, sie sind jedoch auf viele andere Konzentrationslager anwendbar, da viele Häftlinge aber auch Lagerpersonal im Laufe der Zeit die Konzentrationslager wechselten und sich Kogons Darstellungen mit deren deckt.
Der Lageralltag, der in fast allen KLs vergleichbar war, war gezeichnet von einem täglichen Kampf ums Überleben, wobei sich dieser Kampf für verschiedene Häftlingsgruppen unterschiedlich schwierig ausprägte, bis hin zu Häftlingen, die diesen Kampf schon verloren hatten, als sie die Lagertore betraten. (Hierbei handelte es sich vor allem um jüdische Häftlinge, aber auch russische und polnische Kriegsgefangene.) Die Behandlung dieser Gefangenen war entsetzlich und der Kurze Aufenthalt im Lager endete in den allermeisten Fällen mit dem Tode. (Zu bestimmten Zeiten wurden täglich bis zu 500 russische Kriegsgefangene „gebadet“ – d. h. erschossen.) Aber auch der große Rest der Häftlinge – politische Gefangene, Verbrecher, Bibelforscher usf. mussten täglich damit rechnen, der Willkür der SS-Mannschaften ausgesetzt zu sein. So reichte oft schon ein falscher Blick oder der falsche Ort, um misshandelt oder erschossen zu werden. Viele der Gefangenen entwickelten mit der Zeit ein regelrechtes „Gefahrengespür“ und konnten so oft Repressalien und Gefährdungen entgehen. Dennoch bildete die Angst um das eigenen Leben die Grundlage der Existenz. Diese Angst beschränkte sich nicht alleine auf den Umgang mit den Wachmannschaften, auch unter den Häftlingen kam es zu Auseinandersetzungen und die verschiedenen Gruppen standen in starkem Konflikt um ihre Position in der Lagerorganisation.
In jeder Tätigkeit und an jeden Ort des Lagers drohte der Tod, angefangen mit der Verpflegung, der Lagerarbeit bis hin zu den Krankenstationen in denen die Ärzte meist mehr töteten als heilten.
Entscheidend für die Bedingungen im Lager waren die Postionen der Lagerkommandantur und des Lagerarztes. Sie hatten den allergrößten Einfluß auf den Alltag der Häftlinge und konnten deren Situation massiv verbessern oder verschlechtern. Es gab Zeiten, in denen sich die Situation für viele Häftlinge entspannte (ohne aber gut oder normal in einem außerlagerlichen Sinne zu sein) teilweise sogar soweit, dass es erlaubt wurde, die Krankenversorgung zumindest zum Teil in die Hände von Ärzten und Krankenpflegern aus den Reihen der Häftlinge zu legen. In solchen Phasen konnte durch eine notdürftige Versorgung das schlimmste Verhindert werden. Es gab aber auch Lagerärzte, etwas Dr. Eisele oder Dr. Kirchert, unter denen die Situation fatal war. Nicht nur, dass die wenigsten Kranken das „Revier“ wieder lebend verließen, wurden (häufiger in anderen Lagern) furchtbare medizinische Versuche an den „Patienten“ vorgenommen.

In dieser Art stellen sich die Beschreibungen fast aller Lebensbereiche des Lageralltags dar. Es war ein ständiger Wechsel zwischen Privilegien und Repression, zwischen Erleichterung der Haftbedingungen und Verschlechterung der persönlichen Lebenssituation. Die ganze Struktur des Lager ist von einer solchen Bivalenz geprägt, die jedoch nicht über die tagtägliche Willkür hinwegtäuschen kann.

Kogon leistete mit seinem Buch Pionierarbeit. Es ist die erste und ausführlichste Beschreibung, die sich mit der Struktur eines einzelnen Konzentrationslagers auseinandersetzt. Sein Buch geriet in der frühen Bundesrepublik in Vergessenheit, es war in einer Gesellschaft der Vergangenheitsverdrängung kein Platz für ein Werk, dass durch seine bloße Präsenz anklagt. Unter den „davon haben wir nichts gewusst“-Rufen ging es unter und wurde erst sehr spät in Deutschland wiederentdeckt. Eine zu bedauernde Entwicklung, trägt dieses Buch doch maßgeblich zum Verständis der SS und ihres Herrschaftsanspruchs bei und letztendlich zeigt das Buch einen unverblümten Blick auf die Verbrechen des Nationalsozialistischen Regimes.


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